Die Kunst der Begleitung kindlicher Selbst-Bildung: Beispiel „Orca-Forscher“ in einer münsteraner Kita

Seit in den letzten fünfzehn Jahren die Wichtigkeit unserer Kitas als Bildungseinrichtungen ins Blickfeld gerückt ist, habe ich – wie viele andere an kindlicher Bildung Interessierte – darüber nachgedacht, welche Rolle wir Erwachsene eigentlich bei Lern- und Entwicklungsprozessen von Kindern haben. Haben sollten. Haben wollen. Kurz: Wie wir Kindern in ihrer Entwicklung am besten nützen.

Kinder sind Selbstbildner, aber nicht „Alleine-Bildner“

Ein wichtiger Grundgedanke scheint mir zu sein, dass Kinder zwar „Selbstbildner“ (so nennt es die Pädagogik) sind, aber nicht „Alleine-Bildner“. Sie brauchen uns dabei: zugewandte, wertschätzende, aufmerksame Erwachsene.

Der Sog des Wissenwollens

Die „Selbst-Bildung“ wird aus Impulsen angetrieben, die jedes Kind mitbringt: Neugier, Interesse, Wissbegierde. Kinder WOLLEN lernen. Das, was sie jeweils gerade lernen wollen. Diesem Wollen können wir Lernbegleiter/innen folgen. „Lernbegleitung“ ist insofern ein grundlegend anderes Konzept als „Wissensvermittlung“. Nicht der Druck von außen herangetragener Lerninhalte (und erwachsener Erwartungen) führt zu produktiven Bildungserlebnissen, sondern der Sog des Wissenwollens.

Begleiter sind keine Bestimmer

So wie ein Bodyguard nicht die Befugnis hat zu bestimmen, wohin die beschützte Person gerade gehen will, so ist auch die Aufgabe der Lernbegleitung nicht, Wege vorzugeben, sondern die Kinder auf deren Wegen zu unterstützen: für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, gegebenenfalls zu ermuntern und viel Lob zu geben.

Lernbegleitung praktisch

Wie aber lassen sich solche Erkenntnisse in der Kita-Praxis umsetzen? Mit welchen Methoden können Erzieher/innen gute Lernbegleiter/innen für Kinder sein?

Für mich ist die amerikanische Pädagogin Nancy Hoenisch (die in den 60ern und 70ern auch in Berlin gearbeitet hat) nach wie vor ein strahlendes Beispiel. Schaut man in ihre Bücher (allen voran: „Bildung mit Demokratie und Zärtlichkeit“ und „Hallo Kinder, seid Erfinder!“ – beide mit Elisabeth Niggemeyers Fotos wunderbar illustriert), so spricht aus jeder Zeile, aus jedem Bild die Wertschätzung dieser großartigen Pädagogin für die Lernwege der Kinder; ich finde, die Bücher geben viele Impulse für die eigene Arbeit mit Kindern.

Ein besonderes Beispiel einer sehr bewussten und reflektierten Lernbegleitungs-Haltung ist mir im Zuge meiner beruflichen Tätigkeiten in Münster begegnet: Das Team der Städtischen Kita Nienberge-Häger hat eine Methodik entwickelt, die auf der Entwicklung einer inneren Haltung der Mitarbeiterinnen fußt: den Kindern nicht Wissen vermitteln zu wollen, sondern die Fähigkeit, sich Wissen zu erobern. Unterstützt werden sie dabei seit vielen Jahren durch die private Stiftung Akademie für Kinder, welche die Arbeit vieler münsteraner Kitas durch die Organisation und Unterstützung von Arbeitskreisen weiterentwickeln hilft. 2010 habe ich von der Arbeit in dieser Kita im Rahmen einer Heftreihe berichtet; damals forschten die Kinder dort gerade über Wespen (Infos zur Publikation vgl. unten). Das jeweilige Forschungsthema ergibt sich aus dem, was den Kindern gerade begegnet und wichtig ist – so gab es in der Kita beispielsweise schon Mäuse-, Spinnen- und Wetterforschung, Wildnis-, Eis-, Kuh- , Messer-, Gräber-, Pipi-, Pfeilgiftfrosch- und Gongforschung und viele mehr. Unter anderem ein Orca-Forschungsprojekt; dieses (und das Pfeilgiftfrosch-Projekt) ist bei der Stiftung Akademie für Kinder (nähere Angaben finden Sie unten) als Dokumentation zum Selbstausdrucken erhältlich. Ich möchte sie hier kurz vorstellen

Die Orca-Forscher

Die Broschüre dokumentiert auf 22 Seiten (reich illustriert), wie die „Forscherkinder“ (eine Gruppe von etwa zehn Zweieinhalb- bis Sechsjährigen) sich vier Monate lang (!) mit dem Thema „Orcas“ befasst haben, welche Wege sie dabei gegangen sind, und was die Erwachsenen dabei zu tun hatten.

Leider wird nicht ersichtlich, wie genau das Interesse an Orcas bei den Kindern entstanden war (durch ein beliebtes Buch? Einen Zoobesuch? Eine Fernsehsendung?…); die Kinder entschieden jedenfalls selbst über ihr Forscherthema. Und suchten dann zum einen nach Informationsquellen, die ihnen zugänglich sind (Kinderbücher, Orca-Figuren…), zum anderen nach FORSCHERFRAGEN. – Und diese Forscherfragen beantwortete ihnen NICHT die begleitende Pädagogin: dann wäre der Forschungsprozess vielleicht schon am ersten Tag beendet gewesen…

Die Dokumentation lässt nachvollziehen, wie die Kinder Ideen entwickelten, wie und wo Antworten auf die Forscherfragen zu finden sein könnten. Und wie hieraus immer neue Fragen erwuchsen. So waren die ersten Fragen unter anderem:

·         Wie sieht ein Orca aus?

·         Was frisst ein Orca?

Anhand von Orca-Spielfiguren und Bildern aus Büchern wurden nicht nur die typische Orca-Färbung, ihre Form und ihre Flossen untersucht. Weil den Kindern auffiel, dass die Finne (also Rückenflosse) bei verschiedenen Orcas unterschiedlich aussieht, schloss sich gleich die nächste Forscherfrage an: WARUM ist das so? Die Kinder haben es herausgefunden… Und bei der Beschäftigung mit der Frage, was Orcas fressen, entwickelten die Kinder ein besonderes Interesse am Orca-Gebiss. – Wie groß ist eigentlich so ein Orca-Zahn? Wie viele davon haben sie – und wie viele haben wir eigentlich? So produziert eine Frage die nächste… 

Das Rollenverständnis der Lernbegleiterin in diesem monatelangen Prozess wird in der Dokumentation auch deutlich:

·         Ihr Job war es, die Lernschritte und Fragen festzuhalten und das Beschäftigen der Kinder damit zu organisieren, und

·         Sie hat einen Rahmen geschaffen, in dem die Kinder das, was sie interessierte, visualisieren, anfassen, erspielen, erfahren konnten: durch Wandzeitungen, Bilder und Figuren, Bücher, einen Globus, Materialvorschläge und Spiele. So haben sich die Kinder beispielsweise damit auseinandergesetzt, wie riesengroß ein Orca ist: Alle in der Kita verfügbaren Zollstöcke wurden quer durch den Raum aneinandergelegt; es waren aber nicht genug. So mussten sich noch zwei Ein-Meter-Kinder hintendran legen: SO lang sind neun Meter! Und als die Forscher/innen sich für die Orca-Zähne interessierten, haben sie (maßstabsgetreu abgemessen) welche aus Knetmasse geformt. SO groß sind Orca-Zähne!

·         Sie hat, wo externe Hilfe gefragt war, diese organisiert: So hatten die Kinder beispielsweise gemeint, eine Zahnärztin könne ihnen sicher kompetente Antworten geben auf Forscherfragen, die sich in Bezug auf Orcazähne im Vergleich mit Kinderzähnen ergeben hatten. Die nette Zahnärztin nahm sich Zeit für die Kinderfragen.

·         Und sie hat gemeinsam mit den Kindern die große Präsentation zum Projektende vorbereitet: Für alle anderen Kita-Kinder führten die Forscherkinder die Ergebnisse ihrer Orca-Forschung vor: mit Beamer, vielen Präsentationsmaterialien auf dem Boden und an der Wand, und mit einer Fragerunde, in der die Forscherkinder die Fragen des interessierten Publikums beantworteten.

Man kann der kleinen Loseblattsammlung genau anmerken, wie beharrlich (vier Monate!) die Kinder ihren Lerninteressen gefolgt sind. Dank des guten Rahmens, den sie in ihrer Kita dafür fanden.

Sie haben jetzt nicht nur etwas über Orcas gelernt. Viel wichtiger ist, dass sie gelernt haben

·         dass sie kompetente Forscher/innen sind,

·         dass ihre Fragen ernstgenommen werden, 

·         dass man gemeinsam Wege finden kann, sie zu beantworten.

… und: Beharrlichkeit, Konzentration, Austausch, Diskussion, Zusammenarbeit, Präsentation… kurz: Sie haben ein Stück das Lernen gelernt. Das ist so viel mehr als bloßes Faktenwissen.

Gabriele Dahle

Publikationshinweise:

–          Mein Bericht über die „Wespenforscher“ in der Kita Nienberge-Häger sowie ein Interwiew mit der Leiterin („So forschen Experten“ und „Visionen kommen aus Sehnsucht und Wissen“) ist erschienen in: G., Dahle (Hersg.) Mathematik & Naturwissenschaften, Heft 25, München Mai 2010. Das Heft ist nicht mehr erhältlich. Wenn Sie Interesse an dem Beitrag haben, schicken Sie mir bitte eine Email: dahle@pragma-bo.de

–          Allen, die sich dafür interessieren, welchen Hintergrund sich das Team in Nienberge-Häger für die Lernbegleitung ihrer Kinder erarbeitet hat, empfehle ich zwei DVDs, die ihre Arbeitsweise sehr deutlich machen: „Wie kommt der Ton aus dem Gong?“ und „Die Kunst des Wartens und die Freiheit des Wachsens“. Beide Filme sind bei der Stiftung Akademie für Kinder erhältlich: www.akademie-fuer-kinder.de

–          Bei der Stiftung erhältlich sind auch weitere Dokumentationen und Projektbeispiele aus verschiedenen Einrichtungen.