Sternstunden…

… sind mir vor einiger Zeit bei den städtischen Kitas in Marl begegnet. Die Sternstunde ist eine auf ein einzelnes Kind ausgerichtete Fördersituation, die dieses Kind in einer 1:1-Situation mit einer Fachkraft verbringt. Es geht darum, die Entwicklung des Kindes passgenau und intensiv zu begleiten, seine nächsten Entwicklungsschritte anzuregen und zu unterstützen.

Dieses „Vorgehen orientiert sich… am Konzept des russischen Psychologen Lew Wygotski (1896 – 1934). Von ihm stammt der Gedanke, sich jeweils auf die `Zone der nächsten Entwicklung des Kindes´ hin zu orientieren; damit meint er `das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse´. Die Herausforderung an die pädagogische Fachkraft besteht darin, nicht nur aufmerksam zu erkennen, was das Kind schon kann, sondern den Blick darüber hinaus zu richten: auf das, was sich schon andeutet, weil es auf dem Lernweg dieses Kindes als Nächstes ansteht.“ Um das Konzept allgemein zugänglich zu machen, haben wir gemeinsam mit den beteiligten Kitas und der Fachberatung der Stadt Marl dazu eine Arbeitshilfe gemacht. Die finden Sie im Netz.

Sternstunden sind eine besonders intensive Form, die Entwicklung eines Kindes zu fördern. Sie werden geplant und vorbereitet. Und dann werden sie so lange angeboten, umgesetzt und auf die jeweilige Kind und seine Situation abgestimmt, bis die Lern- und Entwicklungsziele erreicht sind. Da Kinder im Elementarbereich ja Dauer- und Viellerner sind, setzt sich dieser Prozess fort. Aus der `Zone der nächsten Entwicklung´ ergeben sich dann die nächsten Lern- und Entwicklungsziele und so weiter…

Da die Sternstunde eine sehr personalintensive Form der Begleitung der Kinder ist, können aufgrund der Erwachsenen-Kind-Relationen in deutschen Kindergärten nicht alle Kinder davon gleichermaßen profitieren. Insofern wird ihr Einsatz oft den Kindern vorbehalten, deren Entwicklungsstand deutlich hinter ihrem Alter zurück ist.

In dem folgenden Beispiel zur Sprachförderung aus der Arbeitshilfe kann man nachvollziehen, wie das Konzept der Sternstunde umgesetzt wird. Die Sprachförderung von Kindern im Elementarbereich hat eine hohe Priorität, weil das Verständnis der deutschen Sprache und dern angemessener Sprachgebrauch der Schlüssel zum schulischen Erfolg ist. 

Beispiel Irina
Als Irina (der Name ist geändert) im August 2012 – mit gut zweieinviertel Jahren – in die Kita kam, sprach sie kein Wort Deutsch. Ihre Mutter verständigte sich ausschließlich in Russisch mit ihr. Irinina tat sie sich in den ersten Monaten sehr schwer mit der morgendlichen Trennung von ihrer Mutter. Sie präsentierte sich als ein stilles, ruhiges und schüchternes Kind. Sie war schon trocken, traute sich aber nicht, sich bemerkbar zu machen, wenn sie auf die Toilette musste, und nässte dann ein. Es dauerte mehrere Monate – bis zum Ende des Jahres – bis sie richtig in der Kita angekommen und in die Gruppe integriert war. Sie sprach allerdings wenig, und wenn dann ausschließlich russische Worte.

Nach einem guten Vierteljahr gab es dann die ersten Sternstunden, vor allem mit dem Ziel, Irina anzuregen, die ersten Worte auf Deutsch zu sprechen, ihre sprachliche Entwicklung insgesamt zu unterstützen. Sie tat sich sehr schwer, freute sich aber immer sehr auf die 1:1-Situation mit der Fachkraft. Diese intensive Form der Zuwendung schien sie besonders zu motivieren. Im Mai sprach sie dann die ersten Worte auf Deutsch, verstand einfache Anweisungen und nach circa 15 Monaten (im Sommer 2013) folgten die ersten Zweiwort-Sätze. Zwei bis drei Sternstunden – Dauer jeweils 15 bis 30 Minuten – bekam Irina in der Woche. Da sie gut darauf ansprach, wurden die Sternstunden mit und für Irina fortgesetzt, insgesamt  über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren – bis zum Sommer 2015. Im letzten Kindergartenjahr reichten der tägliche Kontakt, das Spiel in der Gruppe mit den anderen Kindern und die Begleitung durch die Fachkräfte, um die immer noch vorhandenen, aber deutlich geringeren Entwicklungsrückstände aufzuholen. Vor allem die Verbesserung ihres Selbstbewusstseins war in diesem Zeitraum ein wichtiger Schlüssel, ihre sprachliche Kompetenz weiter zu verbessern. Ihre zukünftige Grundschullehrerin hatte Irina zusammen mit anderen Kindern aus der Kita schon in die Schule eingeladen und sie als sehr aufmerksam, leistungsbereit und ausdauernd erlebt. Sie verstand die Anweisungen und traute sich auch zu fragen, wenn sie etwas nicht verstand.

Im Folgenden zwei Beispiele für Sternstunden mit Irina. Eine aus der Anfangszeit im Dezember 2012, wo sie noch kein Wort Deutsch spricht. Und das zweite Beispiel kurz vor ihrem fünften Geburtstag im März 2015. Hier erkennt man, wie viel Irina in den knapp zwei Jahren gelernt hat, aber auch, welche Entwicklungsschritte im letzten Kindergartenjahr noch wichtig sind, um gut für die Schule aufgestellt zu sein.

Sternstunde mit Irina im Dezember 2012
Ziel: Sprechfreude wecken, erste Worte auf Deutsch sprechen, erste Wortschatzübungen, Aussprache üben
Angebot: Wir bauen die Eisenbahnschienen auf und lassen eine Lokomotive fahren
Dauer: ca. 30 Minuten

Irina und  Fachkraft sind im Nebenraum und wollen eine Eisenbahnstrecke aufbauen. Irina lächelt und geht auf die Kiste zu, in der die Schienen liegen. Irina holt die Schienen heraus, legt sie auf den Boden und steckt sie zusammen. Sie hält jede Schiene hoch.

Fachkraft: „Das ist eine gerade Schiene.“ – „Das ist eine Kurve. Sie ist gebogen.“ – „Das ist eine Weiche und das ist eine Brücke.“
Die Kommunikation beschränkt sich darauf, dass die Fachkraft die einzelnen Teile benennt, und Irina die Worte wiederholt. Zum Schluss stellt  sie sich vor den Schrank und zeigt auf die Lokomotive.
Fachkraft: „Was möchtest du?“
Irina schaut mich an und versucht „Lokomotive“ zu sagen.
Fachkraft: „Möchtest du jetzt die Lokomotive fahren lassen?“
Irina nickt mit dem Kopf, aber ich bestehe darauf, dass sie „Ja“ sagt.
Irina lächelt und sagt tatsächlich: „ Ja.“
Irina lächelt wieder und versucht „Lokomotive“ zu sagen. Gestik und Mimik zeigen, dass sie sich wohl fühlt. Wir wiederholen, und sie versucht nachzusprechen.

Sternstunde mit Irina im März 2015
Ziel: Wortschatz, Kategorien, Artikel
Angebot: Lagenpuzzle Mädchen
Hier gilt es, mehrere Puzzle fertig zu stellen. Es beginnt beim Skelett, über die inneren Organe – Gehirn, Lunge, Luftröhre, Herz, Magen, Darm, Blase zu Muskeln und Sehnen zum nackten Mädchen und zum Mädchen im Kleid. Das Ganze nur anders herum aufgebaut, jeweils 7 Teile.
Dauer: 15 Minuten    

Fachkraft: „Irina was siehst du hier?“
Irina: „Ein Mädchen.“
Fachkraft: „Dann sag doch bitte „Ich sehe ein Mädchen.“
Irina: „Ich sehe ein Mädchen.“
Fachkraft: „Was hat das Mädchen an?“
Irina: „Ein Kleid.“
Fachkraft: „Versuche einen ganzen Satz.“
Irina.: „Das Mädchen hat ein Kleid an.“
Fachkraft: „Prima. Was kannst du von dem Mädchen sehen?“
Irina: „Kopf. Arm.“
Fachkraft: „Irina denkst du an einen ganzen Satz?“
Irina: „Ich sehe den Kopf, den Arm, Beine, ein Kleid.“
Fachkraft: „Was ist das?“ – Fachkraft deutet mit dem Finger auf den Kopf und die einzelnen Körperteile.
Irina: „Das ist der Kopf und die Augen. Ein Mund, die Nase, Lippen, Ohren, Haare.“
Fachkraft: „Gut. Kennst du auch diese Teile und diese Teile?“ deutet mit dem Finger auf Arme, Hände, Beine, Füße.
Irina: „Ja, das sind die Füße und die Hände.“
Fachkraft: „Ja, aber da ist doch noch etwas zwischen dem Körper und der Hand und auch vor dem Fuß. Wie heißt denn das?“
Irina: „Arme, Beine.“
Fachkraft: „Ja, das sind die Arme, dann komme die Hände. Das sind die Beine und daran sind die Füße. Dann packe das Puzzle einmal aus. Was siehst du jetzt?“
Irina: „Ein nackiges Mädchen.“
Fachkraft: „Irina kannst du bei dem nackten Mädchen noch etwas sehen, was wir vorher nicht sehen konnten?“
Irina deutet auf die Schultern: „Die Schultern, den Bauch.“
Fachkraft: „Was ist zwischen dem Kopf und dem Körper?“
Irina: „Das ist der Hals.“
Fachkraft: „Dann pack diese Teile auch aus.“
Es folgt das Puzzle, auf dem man Muskeln und Bänder sieht.
Fachkraft: „Irina, was kannst du hier sehen?“
Irina.: „Ganz viel Blut.“
Fachkraft: „Ja, auch. Aber dieses sind die Muskeln und Sehnen, damit du stehen, gehen, laufen und dich überhaupt bewegen kannst. Dann packe die Teile wieder aus.“ „Was siehst du nun?“
Irina: „Ich weiß nicht“
Fachkraft: „Das sind die Organe. Das im Kopf ist das Gehirn – damit man denken kann. Das ist die Luftröhre – da geht unser Atem rein und raus. Das ist die Lunge. Hinter der Lunge ist das Herz –  das kennst du. Dann ist hier noch der Magen – da kommt das ganze Essen rein. Das ist der ganz lange Darm und die Blase, da kommen Pippi und … raus. Hast du das schon einmal gehört?“
Irina.: „Nein, aber ein Herz kenn ich.“
Fachkraft: „Also nochmal auspacken. Was siehst du jetzt?“
Irina: „Da sind Knochen.“
Fachkraft: „Genau. In allen Menschen sind Knochen, das ist das Skelett. So, Irinia, Jetzt puzzle die ganzen Puzzle mal wieder zusammen.“
Dieses geht bei Irina ruck zuck.

Hier erfahren Sie noch mehr über Irina und weitere 5 exemplarisch dokumentierte Entwicklungsverläufe einzelner Kinder: Sternstunden und das Gesamtkonzept der städtischen Kitas in Marl. Mehr über das Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung des Kindes“ des russischen Psychologen Lew Wygotski finden Sie im Handbuch Kindergartenpädagogik.