Was ist Politik? Gestaltung der Zukunft oder Mängelverwaltung

Beitrag Michael Schrader
Die schwarz-grüne Landesregierung ist jetzt seit einem Jahr im Amt. CDU und Grüne versprachen eine Zukunftsoffensive für NRW. Schauen wir uns das nach einem Jahr anhand des Themas Bildung genauer an: „Bildung in Kindertagesstätten und Schulen sind ein großer Schwerpunkt der Landesregierung. Nur dieses Ressort müsse sich an den allgemein notwendigen Einsparungen nicht beteiligen, hob Wüst (CDU, Ministerpräsident) hervor. Es sei völlig unstreitig in der Koalition, ´dass die Kleinsten die größte Rolle spielen´, betonte Neubaur (Grüne, Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie).“ (Westdeutsche Allgemeine (WAZ) Zeitung 25.6.2023)

Genauer: „NRW muss `Spar-Haushalt´ fahren – 2024 fließt weniger Geld als erhofft“ (WAZ 22.6.2023). Der Finanzminister dazu: „Keine Spielräume für neue Maßnahmen“ (ebd.) und das „Kabinett habe sich darauf verständigt, dass in den Bereichen Kita und Schule keine Abstriche gemacht werden sollen.“ (Ebd.) Das heißt, es soll nicht gekürzt werden – aber zusätzliche Mittel, die mit Blick auf den sich zuspitzenden Fachkräftemangel und die zunehmende Bildungsgerechtigkeit mehr als dringend benötigt werden, wird es offensichtlich nicht geben!!! Wenn wir das am Beispiel der Kitas konkretisieren: „Die Kitas stecken in einer Dauerkrise, das Alltagshelferprogramm und die Sprach-Kitas wurden … bisher nur auf Zeit (bis Ende 2023) gerettet.“ (WAZ 22.6.2023). Das heißt ab 2024 könnte es diese beiden Programme auch nicht mehr geben!?! Dazu kommt dann noch: Von Maßnahmen zur Abmilderung des Personal- bzw. Fachkräftemangels ist mit Blick auf die Kitas in den letzten Monaten kaum noch die Rede gewesen; im Vordergrund standen der Fach-und Arbeitskräftemangel in der Pflege, im Handwerk und in der Industrie.

Marathon gegen den Fachkräftemangel gar nicht erst gestartet?!?
Anfang des Jahres hatte die Landesregierung sich diesbezüglich noch auf „vier Maßnahmenbereiche“ verständigt: „Mit mehr Quereinsteigern, erleichterter Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und dem Ausbau des Studien- und Ausbildungsangebotes in Erziehungsberufen wollen CDU und Grüne den massiven Fachkräftemangel in den NRW-Kitas lindern. Einen entsprechenden Antrag verabschiedeten die Regierungsfraktionen am Donnerstag (26.01.2023) mit ihrer Landtagsmehrheit… Zu den Maßnahmen gehöre (auch) der Einsatz von Verwaltungsassistentinnen in Kitas, die pädagogische Fachkräfte und Kita-Leitungen von administrativen Aufgaben entlasten sollen“. (WAZ 27.01.2023) Josefine Paul (Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration) sprach im letzten Jahr in diesem Zusammenhang von einem „Marathon“, den es in den nächsten Jahren zu bewältigen gelte (siehe Blog 27.10.2023). Davon ist keine Rede mehr…

Mängelverwaltung, Zuspitzung der Kita-Krise
Das heißt die Krise im Elementarbereich (und das kann man auf den Schulbereich übertragen) wird sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen. Der Fachkräftemangel wird zunehmen, zumal ab 2026 auch noch der Rechtsanspruch im Offenen Ganztag dazukommen wird. Die Expert*innen gehen davon aus, „ dass in NRW bis zum Ende dieses Jahrzehnt bis zu 250.000 Vollzeitkräfte in den Kitas und im offenen Ganztag benötigt werden. Das ist deutlich mehr als eine Verdopplung! Auch im schulischen Bereich wird sich der Lehrerkräftemangel in den nächsten Jahren (weiter) zuspitzen.“ (Details hierzu siehe Blog vom 12.02.2023).
Die Situation in vielen Kitas ist ja jetzt schon (mehr) als angespannt.
– offene Stellen können oft nicht zeitnah wieder besetzt werden.
– die Überforderungen der letzten drei Jahre führen zu höheren Krankenständen.
– Fachkräfte reduzieren aufgrund der Belastungen ihren Stellenumfang oder wechseln in andere Arbeitsfelder.
– immer häufig müssen Öffnungszeiten eingeschränkt, Notgruppen eingerichtet oder einzelne Gruppen vollständig geschlossen werden.
– deswegen kommt es immer häufiger zu Spannungen/Konflikten zwischen den Eltern und den Fachkräften.
Wir brauchen aber Arbeitsbedingungen, die Fachkräfte motivieren, in diesem Bereich zu arbeiten. Das würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu führen, dass zumindest ein Teil der Teilzeitkräfte in den Kitas (knapp 50 Prozent) Stunden aufstocken würde (siehe Blog vom 12.02.2023). Diese Fachkräfte sind schon da, gut ausgebildet und sprechen deutsch…

Unsere Volkswirtschaft, unser Wohlstand, unsere Zukunft
Wir wissen, dass Bildung ein Schlüssel ist für die Gestaltung unserer Zukunft. Dabei geht es zum einen um Bildungsgerechtigkeit für das einzelne Kind. Kinder aus bildungsungewohnten Schichten und Migrationsfamilien müssen entsprechend unterstützt und gefördert werden, damit sie in unserem Schulsystem nicht schon in der Grundschule abgehängt werden. In Duisburg liegt der Anteil von Kita-Kindern, die zuhause nicht Deutsch sprechen, bei 44 Prozent (WAZ 17.01.2023). Da ist Handlungsbedarf. 50.000 Schülerinnen und Schüler schaffen jährlich nicht den Hauptschulabschluss. Dazu kommt noch die zunehmende Armut von Kindern und Jugendlichen: „3,08 Millionen Minderjährige (= 25,9 Prozent) lebten 2022 in Haushalten mit besonders niedrigen Einkommen“ WAZ 8.6.2023), von denen viele aufgrund ihrer Familien keinen guten Zugang zur Bildung haben. Diese (und viele mehr) fehlen uns zum anderen mit Blick auf den demografisch bedingten und bis Mitte der 2030er Jahre sich weiter verschärfenden Arbeits- und Fachkräftemangel und die zunehmenden qualifikatorischen Anforderungen in den Berufen in quantitativer und qualitativer Hinsicht. Wenn es hier nicht gelingt gegenzusteuern, werden die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und der Wohlstand unserer Gesellschaft abnehmen. Das weiß auch die Politik! Die wechselseitigen Abhängigkeiten und Zusammenhänge von Bildung, Bildungsgerechtigkeit, Wohlstand und Gestaltung der Zukunft sind in vielfacher Hinsicht wissenschaftlich unterfüttert und belegt (siehe u.a. Blog vom 12.02.2023 – „Kinder haben keine Lobby“ und „Kinderbetreuung und Gerechtigkeit“).

Symbolpolitik – nein danke
Was können, sollten wir von der Politik erwarten? Um diese Frage ziel- und lösungsorientiert beantworten zu können, muss man sich bewusst machen, dass es bei der Gestaltung des Bildungsbereichs (wie bei allen anderen Bereichen auch) um Realpolitik geht. Das heißt diese komplexen und auf längere Zeiträume angelegten Konzepte, Veränderungs- und Umbauprozesse etc. bedürfen der Verständigung unter den jeweiligen Koalitionspartnern, müssen integriert und zusammengeführt werden, sollten wissenschaftlich unterfüttert sein und begleitet werden, müssen in Gesetze, Verwaltungsvorschriften (Stichwort Bürokratie) etc. übersetzt, finanziert (in Haushaltsplänen untergebracht), ggf. föderal und/oder mit Städten und Landkreisen abgestimmt werden etc. Insofern kann die Erwartung nicht sein, dass diese ´Baustellen´ zeitnah abgearbeitet und neue Konzepte auf die Schnelle umgesetzt werden. – Drei Forderungen:

1. Ehrlich sein
Statt Floskeln wie „die Kleinsten spielen die größte Rolle“ mit Blick auf den Landeshaushalt NRW für 2024 (siehe oben Neubaur in der WAZ 25.06.2023) die ehrliche Aussage: „Mit den aktuell auf den Weg gebrachten Maßnahmen werden wir die Zuspitzung und Verschärfung der Krise im Bildungsbereich – wenn überhaupt – nur geringfügig abfedern.“

2. Realpolitische Gestaltungsspielräume identifizieren, auf den Weg bringen, kontinuierlich evaluieren und weiterentwickeln
Das ist einfacher gesagt bzw. geschrieben als umgesetzt. Es geht in einem ersten Schritt immer darum, sich über Ziele zu verständigen. Dabei gibt es auch Ziele, deren Umsetzung nicht zwangsläufig zu höheren Ausgaben führen, z.B. mehr Gestaltungsspielraum für Schulleitungen und Kollegien, Entbürokratisierung der Aufgaben von Kita-Leitungen, Integration von Unterricht und Ganztag, Umsetzung von Hilfen nach Bildung und Teilhabe mit einer Scheckkarte (bei BuT zahlt nur der Bund!) etc. Dann wird es Maßnahmen geben, die Geld kosten, aber besonders wirksam sind, z.B. Ausbau von Familienzentren, personelle Ausstattung von Kitas und Schulen nach dem Sozialindex, gezielte Vorbereitung der Kita-Kinder auf die Schule, Integration von Pädagogik-Studierenden als Alltagshelfer*innen in Kitas und Schulen und vieles mehr. Das hier Einiges auf den Weg gebracht werden kann, kann am Beispiel der Bildungspolitik der Hansestadt Hamburg in den letzten 10 Jahren nachvollziehen (siehe unten Anhang).

3. „Doppelwumms“ (Olaf Scholz) – mittelfristige strategische Ausrichtung
Um die Bildung auf den Weg zu bringen, bedarf es einer langfristigen Strategie – von mindestens 10 Jahren. Das heißt die politischen Akteure brauchen einen langen Atem: Geduld, Ausdauer und Engagement jenseits aktueller tagespolitischer Aktivitäten. Bildung sollte zumindest bei den Parteien, die diese wirklich voranbringen, mehr Bildung für alle sowie Bildungsgerechtigkeit und mehr pädagogischen Fach- und Lehrkräfte erreichen und integrieren wollen, zur Verständigung über eine gemeinsame, langfristige Strategie führen. Auf dieser Basis könnte dann hoffentlich auch – ähnlich wie mit Blick auf Corona und die Bundeswehr – das dringend notwendige Sondervermögen für die Bildung mobilisiert werden, das wir benötigen um unsere Gesellschaft für die Zukunft gut aufzustellen (siehe auch Blog vom 12.02.2023).

Wir bleiben weiter an diesem Thema dran. Nach der Sommerpaus gucken wir genauer in die Kitas und wie diese sich unter den aktuell schlechten Rahmenbedingungen besser (= ressourcenschonend/er) organisieren können – Stichworte: BASIS-Qualität, Reduzierung von Veranstaltungen außerhalb der Öffnungszeiten, Kompensationsmaßnahmen, Einbindung von externen Kräften etc.

Anhang: Hamburg macht Schule! (WAZ 22.06.2023) – Hier einige Zitate aus dem WAZ-Artikel:
Mehr Bildungsgerechtigkeit: „Grundschüler in Hamburg konnten vor zehn Jahren ähnlich schlecht lesen, schreiben und rechnen wie Grundschüler in NRW. Inzwischen gehört die Hansestadt im `IQB-Bildungstrend´, der die Leistung von Viertklässlern vergleicht, zu den Besten. Kein anderes Land hat sich in den letzten zehn Jahren so stark verbessert. Wie machen die das?“
Schulformen: „Es gibt nur zwei Arten von weiterführenden Schulen: Gymnasium (acht Jahre bis zum Abi) und Stadtteilschulen (G9). Haupt- und Realschulen wurden abgeschafft: alle Schulen sind Ganztagschulen, viele bieten Unterricht bis in den Nachmittag an.“
Sozialindex: „Grundschulen in „benachteiligten Stadtteilen“ bekommen bis zu 50 Prozent mehr Personal als andere Grundschulen, und in den Klassen sind höchstens 19 Schüler.“
Vorbereitung auf die Schule: „Besonders stolz sind sie in Hamburg auf die `Vorschule´: Jedes Kind wird mit viereinhallb Jahren in einer Kita oder in einer Schule auf seine Reife getestet. Kann es nicht altersgemäß sprechen, muss es ein Jahr lang eine Vorschule besuchen, andere Mädchen und Jungs tun dies freiwillig.“
Gestaltungsspielraum der Schulen: „Während das Lehrkräfte-Mangel-Land NRW Pädagogen in Brennpunktschulen `abordnet´ arbeiten hier nur Lehrer, die es wirklich wollen. Hamburg Schulen genießen große Freiheiten bei der Auswahl ihrer Lehrerinnen und Lehrer, beim Unterricht und der Arbeitszeit. Dafür schickt die Stadt oft Kontrolleure vorbei, die prüfen, ob diese Freiheit Früchte hervorbringt.“