Einige aktuelle Eindrücke, Hinweise und Überlegungen zur Ausweitung der Kita-Betreuung in NRW (und anderswo)
Mit Blick auf die Kinder und ihre Familien, die Infektionsrisken und die Ausweitung der Betreuung in den Kitas ist mir bei der Lektüre der Zeitungen in den letzten Tagen folgendes aufgefallen:
Familienbonus: „Eine Einmalzahlung an Eltern klingt gut, bringt aber wenig.“ (Süddeutsche Zeitung {SZ] vom 30./31. Mai 2020). Nicola Fuchs-Schündeln (Professorin für Makroökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt) macht in ihrem Gastbeitrag (Wirtschaft, Seite 22) deutlich, dass nur einkommensschwache Familien das zusätzliche Geld auch zeitnah ausgeben werden. In den gut gestellten Familien „wird das Geld auf dem Konto landen.“ Vielfach übersehen wird, dass die (vollständige) Öffnung von Kitas und Schulen deutlich gewichtigere Auswirkungen auf die Wirtschaft haben: 1. Die Betreuung und Förderung von Kindern aus benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund führt zu besseren Bildungsabschlüssen. Insofern stehen dem Arbeitsmarkt perspektivisch kompetentere Fachkräfte zur Verfügung. 2. Vor allem nach wie vor Mütter gehen auf Teilzeit, um sich um die Kinder zu kümmern. So stehen sie mit weniger Stunden dem Arbeitsmarkt (Fachkräftemangel!) zur Verfügung und sind in ihrer Karriereentwicklung eingeschränkt: keine Chancengleichheit. 3. Die Verringerung des Einkommens durch Teilzeit oder auch Verzicht auf berufliche Tätigkeit (26 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland haben Kinder unter 15 Jahren in ihrem Haushalt!) führt auch immer zu einer Reduzierung von Konsumausgaben.
Corona-Infektionen: „Die Tücken der Statistik“ ist ein Artikel (auch SZ vom 30./31. Mai 2020, Wissen Seite 33) überschrieben. Es geht mit Blick auf Kinder um die Frage: „Wie riskant ist es, wenn Kinder dicht an dicht spielen und lernen?“ Darauf gibt es bisher keine abschließende Antwort. Ein Teil der bisher vorliegenden Untersuchungen legen einerseits nahe, dass Kinder im Mittel geringere Viruslasten haben: Andererseits konnten auch bei Kindern sehr hohe Virusmengen nachgewiesen werden. „Tatsächlich sind Virustests (mit Rachenabstrich) eine notorisch ungenaue Angelegenheit.“ Es scheint aber – bei aller Ungewissheit – einiges dafür zu sprechen, „dass Kinder seltener schwer erkranken.“ Hierzu passt eine Meldung aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung [WAZ] von heute (2. Juni 2020) über die Gründe für schwere Krankheitsverläufe: „Im Gegensatz zu Grippeviren befällt demnach der Sars-Cov2 vor allem Blutgefäßstrukturen…. Durch die anschließende Reaktion des Immunsystems kommt es zu einer `gesteigerten Entzündungsreaktion, vergleichbar mit einer Abstoßungsreaktion nach Organtransplantationen´ so die Forscher.“ Und bei Kindern ist dieses Risiko vielleicht geringer, könnte man jetzt spekulieren!?! Aber es geht ja auch um die Abwägung des Infektionsschutzes gegen „weitere Gefahren… Dass die Bildung leidet, dass mit der Schule soziale Unterstützung und manchmal selbst das warme Mittagessen wegfällt. Dass Kinder unbeaufsichtigt bleiben und Familien an ihre Grenzen gelangen. Keine dieser gefahren lässt sich bislang gut beziffern.“ (SZ vom 30./31. Mai, siehe oben).
Kinderschutz: Mit der Abwägung der unterschiedlichen Risiken ist ein weiteres Thema aufgelegt. „Die Familiensoziologin Doris Bühler-Niederberger von der Uni Wuppertal geht davon aus, dass bis zu 20 Prozent der Kinder in Deutschland vernachlässigt oder Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt sind:“ (WAZ vom 2. Juni 2020, Rhein-Ruhr) Unabhängig davon, ob die hier benannten 20 Prozent wirklich die Realität abbilden, hat Corona den Schutz des Kindeswohls als wichtiges Thema aufgelegt. Hierauf haben wir ja in verschiedenen Blogs schon hingewiesen, z.B. Blog vom 12.5.2020 – siehe 4. Perspektive der Kinder).
Kitas in Bochum: „Viele Fragen vor der Rückkehr – Kinder und Eltern freuen sich auf die Wiedereröffnung: Doch da sind eine Reihe von Problemen, mit denen Väter, Mütter, Erzieher und Kitaleitung rechnen müssen.“ (WAZ vom 2. Juni 2020, Lokalteil). So lautet der Titel eines ausführlichen Beitrags im Vorfeld der Öffnung der Kitas in Bochum am kommenden Montag (8.6.2020). Es werden drei zentrale Themen aufgelegt, die es zu lösen gilt.
1. Wie werden die reduzierten Öffnungszeiten umgesetzt? In NRW steht allen Kindern ein um 10 Stunden reduzierter wöchentlicher Betreuungsumfang zur Verfügung. Die Eltern haben für Ihr Kind 25, 35 oder 45h / Woche gebucht und davon entfallen 10h. Dazu Michael Both, Geschäftsführer der Kindergartengemeinschaft evangelischer Kitas (2800 Kinder in 43 Kitas) in Bochum: „Wenn der Minister sagt, wir reduzieren die Betreuungszeiten um zehn Stunden – was heißt das für die Kitas? Es ist ein bisschen frech, zu sagen: Das sollen jetzt die Träger entscheiden und organisieren.“ Den Druck, der da jetzt kurzfristig entstanden ist, kann man gut nachvollziehen. Aber ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, den `Ball wieder nach oben zu spielen´. Aus zwei Gründen: A. Aufgrund der großen Unterschiedlichkeit (Größe, Bedarfe der Eltern, räumliche Situation, Teamzusammensetzung etc.) der Kitas vor Ort würden detaillierte bürokratische Vorgaben zur Gestaltung der Öffnungszeiten mit großer Wahrscheinlichkeit den benötigten Gestaltungsspielraum unverhältnismäßig einschränken. B. Es geht darum, unter den schwierigen Rahmenbedingungen insgesamt kreative, situative und auf die einzelne Kita bezogenen Lösungen zu finden. Hierbei sollte man die Eltern von Beginn aktiv mit einbeziehen (siehe hierzu unseren Blog vom 18.5.2020 – Zwei Schlüssel zum Erfolg). Das ist die Voraussetzung dafür, dass die zu findenden Kompromisse eine möglichst breite Zustimmung bei allen Beteiligten finden.
2. Wie kriegen wir das mit dem Personal hin? In den städtischen Kitas werden 1226 Kinder von 280 Fachkräften betreut, „von denen 20 Prozent… aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht zur Verfügung stehen. Die städtischen Kitas, seien in den letzten Tagen damit beschäftigt gewesen, den Betreuungsumfang aller Familien zu eruieren, das Restpersonal einzuteilen und Vorbereitungen für die Hygienemaßnahmen zu treffen, teil die Stadt mit.“ (Ebd.) Wenn diese Information vorliegen und auch deutlich wird, in welchen Kitas –und das werden nicht nur städtische Kitas sein – das Personal nicht reicht, wird es darum gehen, zusätzliches Personal zu mobilisieren. Dabei wir es darum gehen auch ungewohnte Wege zu gehen und vor allem dieses schnell zu tun. NRW-Familienminister Stamp hat ja hierzu ein Personalgewinnungsprogramm schon angekündigt. Hier gilt es Druck zu machen, damit das Land die benötigten Mittel unbürokratisch zur Verfügung stellt und vor Ort in Frage kommenden Zielgruppen umgehend beworben werden! Hierauf habern wir im Blog vom 4. Mai schon mal hingewiesen: „Zum anderen sollte ab sofort nach Zielgruppen außerhalb der Kitas gesucht werden, die die ja nicht unwahrscheinlichen Engpässe kompensieren helfen. Es sind aktuell 10 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Darunter werden auch Personen sein, die eine Nähe zu sozialen Berufen haben; oder: Studierende, die gerade ihren Aushilfsjob verloren haben, und Geld verdienen müssen; Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Hier bietet sich die Zusammenarbeit mit den Freiwilligenagenturen an.“
3. Zu welchen Problemen führt es, wenn die Kinder sich nur in ihren Stammgruppen aufhalten dürfen? Leiterin Susanne Gosch der städtischen Kita Birkhuhnweg ist skeptisch: „Alle Arbeitsbereiche werden derzeit geschützt – und wir sollen die Erzieher mit 25 Kindern in einen Raum stopfen?“ (Ebd.) Auch mit Blick auf Räumlichkeiten und Außengelände sind die Kitas sehr unterschiedlich ausgestattet: In älteren Kitas (Baujahr 60 und 70er Jahre) gibt zum Gruppen- noch keinen Nebenraum. Dafür stehen anderen Kitas zusätzlich Räume (z.B. Bewegungsraum, Atrium als Eingangsbereich, Speisesaal) zur Verfügung. Erleichternd ist auch ein direkter Zugang vom Gruppenraum ins Außengelände. Auch hier wird es darum gehen, mit Blick auf die Gegebenheiten vor Ort, das bestmögliche Raumkonzept für die nächsten Wochen zu entwickeln, um die Infektionsrisiken möglichst gering zu halten. Ausflüge und Exkursionen ins Freie sollten ausgeweitet werden, weil an der frischen Luft die Ansteckungsgefahr wesentlich geringer ist als in geschlossenen Räumen.
Die Ausweitung der Kinderbetreuung und die Schritte in Richtung Normalität bei gleichzeitiger Beachtung von Infektionsrisiken und deren Reduzierung, soweit es in der KIta möglich ist, erfordern von allen Beteiligten (Fachkräfte; Leitung, Träger, Jugendamt) ein hohes Maß an Flexibilität, die verbindliche und kontinuierliche Kommunikation aller beteiligten Akteure, insbesondere auch der Eltern, zur Findung der bestmöglichen Kompromisse sowie der Entwicklung und Umsetzung neuer Maßnahmen, z.B. bei der Personalgewinnung, der Nutzung des Kita-Umfledes usw.. Wir werden nur erfolgreich sein, das Bestmögliche realisieren, wenn wir bereit sind, auch Neuland zu betreten. Hierüber berichten wir in diesem Blog gerne. Setzen Sie sich mit uns in Verbindung, wenn Sie etwas einbringen können und wollen.